- Viele Schwellenländer befinden sich in einer kritischen Lage, das Risiko von Ausfällen steigt.
- Die Wertentwicklung notleidender Anleihen hängt von zahlreichen Faktoren ab.
- Für eine Rendite kommt es entscheidend darauf an, notleidende Anleihen zum richtigen Preis und zum richtigen Zeitpunkt in ihrem Kreditzyklus zu kaufen.
Ein Kommentar von Nick Eisinger, Emerging Market Lead Strategist, Vanguard Europe
Staatsanleihen aus Schwellenländern stehen unter Druck: Neben wirtschaftlichen und geopolitischen Risiken belasten inzwischen auch steigende Finanzierungskosten und die Gefahr einer Rezession die Anleihemärkte, die Wahrscheinlichkeit von Umstrukturierungen steigt. Viele Anleger:innen fragen sich, ob Ausfälle drohen – und welche Strategie für dieses Marktumfeld die richtige ist.
Das Ende des billigen Geldes
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie haben die öffentlichen Haushalte vieler Schwellenländer erheblich belastet. Zwar profitieren einige erdölexportierende Schwellenländer von der Erholung der Ölpreise und konnten ihre Schulden nach der Pandemie daher leichter bedienen, doch schwaches Wachstum und steigende Inflation in Industrie- und Schwellenländern stellen viele andere vor große Probleme.
Dazu kommt eine ernüchternde Perspektive: das Ende der expansiven Geldpolitik in den Industrieländern. Um die Inflation einzudämmen, hat die US-Notenbank (Fed ) ihre Zinsen im März zum ersten Mal seit 2018 angehoben; in diesem und in den kommenden Jahren erwarten die Märkte weitere Zinserhöhungen.
Früher waren steigende Zinsen in Industrieländern meist eine schlechte Nachricht für Schwellenländer. Zum einen haben sie Mittelabflüsse zur Folge, denn Kapital fließt tendenziell in Anlagen mit höherer Rendite. Steigen in den USA die Zinsen, verkaufen Anleger daher in der Regel Wertpapiere in anderen Währungen und kaufen stattdessen Anlagen, die auf US-Dollar lauten.
Besonders hart treffen steigende Zinsen in Industrieländern hoch verschuldete Schwellenländer, die höhere Zinsen Kredite teurer machen.
Hinzu kommt die Gefahr einer Rezession, die die Zinsen in den USA weiter in die Höhe treiben könnte. Die aktuellen Spekulationen über Restrukturierungen in Schwellenländern sind daher durchaus verständlich.
Schieflage, Restrukturierungen und Zahlungsausfälle
Mehrere Schwellenländer verhandeln bereits über eine Restrukturierung ihrer Schulden, andere nähern sich diesem Stadium und werden an den Märkten bereits als „notleidend“ gehandelt. Per 1. April traf dies auf 16 Länder im J.P. Morgan EMBI Global Diversified Index zu, wobei Anleihen ab Risikoaufschlägen von mehr als 1.000 Basispunkten als notleidend gelten1. Auf dem Höhepunkt der Pandemie, im April 2020, waren dies 15 Länder, von denen neun zwei Jahre später immer noch als notleidend gelten. Die verbleibenden sechs Länder haben sich erholt, sieben sind neu dazugekommen.
Notleidende EM-Staatsanleihen – April 2020 und April 2022

Quelle: Vanguard, J.P. Morgan EMBI Global Diversified Index; Stand: 1. April 2020 bzw. 1. April 2022.
Die Ursachen für eine finanzielle Schieflage können vielfältig sein. Russland und Weißrussland beispielsweise leiden vor allem unter den internationalen Sanktionen, die nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine verhängt wurden. Die gewaltigen Auswirkungen des Krieges bekommt natürlich auch die Ukraine zu spüren, die ihre Schulden zwar zurückzahlen will, aber zunehmend unter Druck steht.
Andernorts hat eine unorthodoxe Wirtschaftspolitik die Schieflage mitverursacht, etwa in El Salvador, wo die Regierung finanzielle Repression im eigenen Land betreibt und gleichzeitig alternative, auf Kryptowährungen basierende externe Finanzierungsquellen erschließen will, um ihre Schulden zu bedienen. Auch die Staatsanleihen des mittelamerikanischen Landes gehören daher zur Kategorie „Distressed“.
Zahlreiche andere Schwellenländer, darunter Äthiopien, Libanon, Sri Lanka, Venezuela und Sambia, sind bereits zahlungsunfähig und verhandeln in einigen Fällen bereits über Restrukturierungen.
Manchmal zeigen die Anleihekurse schon eine finanzielle Schieflage an, obwohl die Regierungen weiterhin Kuponzahlungen leisten und einen Ausfall womöglich noch vermeiden können. Ghana und Tunesien zum Beispiel könnten ihre finanzielle Lage stabilisieren, auch deshalb, weil sich ihre Regierungen stärker im Inland finanzieren und weniger abhängig von den internationalen Anleihemärkten sind. Pakistan, ein weiteres ausfallgefährdetes Land, könnte sich unter Umständen ebenfalls aus seiner Notlage befreien, denn auch die pakistanische Regierung muss sich nicht im gleichen Umfang wie andere im Ausland finanzieren.
Bei notleidenden Krediten ist grundsätzlich Vorsicht geboten, allerdings finden Anleger:innen in diesem Marktsegment auch Alpha-Potenzial. Entscheidend ist der Kaufpreis, denn in vielen Fällen werden die Anleihen nach einer Restrukturierung zu einem höheren Kurs gehandelt als vorher.