• Im Euroraum wirken die steigenden Zinsen schneller als in den USA.
  • Die Finanzpolitik wird die europäische Wirtschaft in diesem Jahr voraussichtlich bremsen, die US-Haushaltsausgaben werden wahrscheinlich das Gegenteil bewirken.
  • Der Euroraum spürt den schwachen Welthandel und Produktionszyklus deutlicher.

 

Seit den aggressiven Zinserhöhungen der US-Notenbank (Fed) und der Europäischen Zentralbank (EZB) im Frühjahr und Sommer 2022 haben sich die beiden Wirtschaftsräume unterschiedlich entwickelt.

Im Euroraum hat die Konjunktur deutlich nachgelassen, seit die EZB in der zweiten Jahreshälfte 2022 ihren Zinserhöhungszyklus eingeläutet hat. In Europa halten wir daher eine Rezession in der zweiten Jahreshälfte 2023 für wahrscheinlich.

Im Gegensatz dazu ist die Wirtschaft in den USA – wo die Fed die Zinsen bereits im April 2022 erstmalig angehoben hat – mit einer Jahresrate von 2% gewachsen.

Aber wenn beide Zentralbanken die hohe Inflation mit ähnlichen Mitteln bekämpft haben –  warum läuft der Euroraum den USA dann so deutlich hinterher? Wir sehen vor allem drei Gründe:

Schnellere Wirkung in Europa

Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass die steigenden Zinsen im Euroraum schneller wirken als in den USA, die europäische Realwirtschaft also deutlicher belasten. Wie das nachstehende Diagramm zeigt, finanzieren sich europäische Unternehmen zu rund 70% über Bankdarlehen, die eher an einen variablen Zinssatz gebunden sind an eine am Kapitalmarkt begebene Anleihe.

Anders die Lage in den USA: Hier finanzieren sich Unternehmen größtenteils (rund 75%) am Kapitalmarkt, und dies überwiegend über Investment-Grade- und High-Yield-Anleihen mit längeren Laufzeiten und einem festen Zinssatz. Höhere Zinsen werden sich in den USA daher erst später in den Gewinn- und Verlustrechnungen der Unternehmen niederschlagen.

Europäische Unternehmen finanzieren sich überwiegend über Banken

Quelle: Deutsche Bank, IHS Markit; Stand: 30. September 2023.

Hinweise: Aufschlüsselung der Finanzierungsquellen von Unternehmen außerhalb des Bankensektors.

Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Nettozinszahlungen europäischer Unternehmen inzwischen deutlich steigen,1 während in den USA das Gegenteil passiert. Ein möglicher Grund: Unternehmen mit hohen Barreserven zahlen Schulden zurück, um ihre Nettozinslast während des Zinserhöhungszyklus zu reduzieren. Viele profitieren auch von den Vorteilen festverzinslicher Anleihen mit längerer Laufzeit, die seltener refinanziert werden müssen und daher erst später auf die Gewinn- und Verlustrechnung durchschlagen.

Und auch die privaten Haushalte im Euroraum bekommen die höheren Zinsen zu spüren: Laut EZB-Daten ist der durchschnittliche Effektivzinssatz für Hypothekenkredite im letzten Jahr um fast einen Prozentpunkt gestiegen. In Italien und Spanien war der Schock größer als in Deutschland und Frankreich, da in diesen Ländern ein größerer Anteil an Hypothekenschulden entweder variabel verzinst ist oder relativ kurze Laufzeiten (zwei bis fünf Jahre) hat.

Und natürlich zeigen die höheren Zinssätze auch im Konsum- und Sparverhalten die gewünschte Wirkung. Wie das nachstehende Diagramm zeigt, ist das Wachstum der weit gefassten Geldmenge (auch als M32 bezeichnet) in den letzten Monaten auch deshalb deutlich gesunken, weil die längerfristigen finanziellen Verbindlichkeiten (dunkelrote Balken) zurückgegangen sind. Im Wesentlichen bedeutet das, dass die Menschen von sofort verfügbaren Einlagenkonten in Anleihen oder festverzinsliche Sparprodukte mit einer Laufzeit von mindestens zwei Jahren umschichten, um höhere Sparzinsen zu sichern.

Da ein größerer Teil der Ersparnisse für mindestens zwei Jahre gebunden ist, werden Anschaffungen wie Autos oder Urlaubsreisen wahrscheinlich aufgeschoben – wodurch der Verbrauch insgesamt sinkt.

Auch der Rückgang der Kreditvergabe an private Haushalte und Unternehmen (hellblaue Balken) und die quantitative Straffung der EZB (goldene Balken) haben zum Rückgang der Geldmenge beigetragen.

Aufschlüsselung des Wachstums der Geldmenge M3 im Euroraum (in % ggü. Vj.)

Ein gemischtes Linien- und Balkendiagramm, das den Anteil der längerfristigen finanziellen Verbindlichkeiten, staatlicher Kreditaufnahme, Kreditaufnahme des privaten Sektors und anderer Komponenten des jährlichen Wachstums der M3-Geldmenge zwischen Januar 2020 und dem 30. September 2023 zeigt. Das Wachstum der Geldmenge M3 ist seit 2021 rückläufig und seit Mitte 2023 negativ.

Quelle: Eurostat, Berechnungen von Vanguard; Stand: 30. September 2023. 

Auf Grundlage unserer Analyse gehen wir davon aus, dass die höheren Zinssätze zwar bereits deutlich spürbar sind, ihre volle Wirkung jedoch noch nicht entfaltet haben (was wir Anfang 2024 erwarten). Wir rechnen mit einer milden Rezession ab der zweiten Jahreshälfte 2023 und wären nicht überrascht, wenn das Wachstum auch zu Beginn des Jahres 2024 sehr schwach ausfallen würde.

Allerdings gehen wir davon aus, dass die Inflation wieder unter das erwartete durchschnittliche Lohnwachstum fällt und die Realeinkommen (inflationsbereinigte Löhne) wieder steigen. Im kommenden Jahr erwarten wir für den Euroraum nach aktuellem Stand eine Wachstumsrate von 0,5 bis 1%.

Haushaltspolitik belastet die Wirtschaft zusätzlich

Auch die Haushaltspolitik dürfte die Wirtschaft des Euroraums belasten, in diesem wie im nächsten Jahr. In den USA rechnen wir dagegen in diesem Jahr mit einer expansiven Wirkung der Haushaltsausgaben.3

In Europa laufen die nach der Pandemie aufgelegten Konjunkturprogramme ebenso aus wie die staatlichen Zuschüsse für die Energiekosten. Das nächste Diagramm zeigt unsere Schätzung, wie sich die Fiskalpolitik im Euroraum, definiert als die jährliche Veränderung des konjunkturbereinigten Primärsaldos multipliziert mit einem Fiskalmultiplikator,4 in den kommenden Quartalen auswirken dürfte. Die Belastung dürfte im zweiten Halbjahr 2023 zunehmen und zum Jahreswechsel mit etwas mehr als 0,5% der Wirtschaftsleistung ihren Höhepunkt erreichen.

 Negativer Fiskalimpuls in diesem und im kommenden Jahr wahrscheinlich

Ein Balkendiagramm, das die erwarteten Auswirkungen der Haushaltspolitik auf das Wirtschaftswachstum (fiskalischer Impuls) zwischen dem ersten Quartal 2023 und dem vierten Quartal 2024 zeigt. Der erste Balken liegt im positiven Bereich, anschließend fällt der fiskalische Impuls unter null und erreicht im ersten Quartal 2024 seinen Tiefpunkt.

Jegliche Prognosen sollten als hypothetischer Natur betrachtet werden und spiegeln keine zukünftigen Ergebnisse wider bzw. garantieren diese nicht.

Quelle: Vanguard. Hinweis: Der fiskalische Impuls entspricht der jährlichen Veränderung des zyklusbereinigten Primärdefizits in Prozent des potenziellen BIP, multipliziert mit einem fiskalischen Multiplikator. Die Annahmen für den fiskalischen Multiplikator wurden anhand von Gechert (2015) kalibriert, Einflussfaktoren für den Multiplikator sind unter anderem die Art der Ausgaben oder der Besteuerung und die Produktionslücke. Unsere Berechnungen enthalten zudem eine Anpassung für die „außerbudgetäre“ Energieförderung in Deutschland in diesem Jahr, die kürzlich von Bundeskanzler Scholz angekündigten Unternehmenssteuersenkungen in Höhe von 32 Milliarden Euro und bescheidene Auszahlungen aus dem Europäischen Wiederaufbaufonds in Südeuropa.

Ein Blick unter die Motorhaube zeigt, dass die Belastung in Italien am größten ist, da hier Steuergutschriften für Gebäuderenovierungen, die im Jahr 2020 angekündigt wurden, seit dem zweiten Quartal 2023 auslaufen. Auch das Ende der Energiezuschüsse, die sich für den größten Teil dieses Jahres auf jeweils rund 1% des BIP beliefen, macht sich in Italien und in Spanien besonders bemerkbar. Unsere Berechnungen enthalten zudem eine Anpassung für die „außerbudgetäre“ Energieförderung in Deutschland in diesem Jahr, die kürzlich angekündigten Unternehmenssteuersenkungen in Höhe von 32 Milliarden Euro und bescheidene Auszahlungen aus dem Europäischen Wiederaufbaufonds in Südeuropa.

Im kommenden Jahr erwarten wir eine weitere Konsolidierung, zumal die Förderprogramme auslaufen, die die Folgen der Pandemie und des Ukraine-Krieges abfedern sollten, und die europäischen Haushaltsverschriften wieder verbindlich gelten.

Schwacher Welthandel und schwache Industrie machen Europa zu schaffen

Zuletzt trägt auch die schwache Weltwirtschaft zur wirtschaftlichen Malaise der Eurozone bei: In den 12 Monaten bis Juli 2023 ist der Welthandel um 3% zurückgegangen.5 Die europäische Wirtschaft ist relativ offen und der Anteil des produzierenden Gewerbes hoch, weshalb der Euroraum besonders anfällig für Schwankungen des globalen Handelszyklus ist.

Tatsächlich erwarten wir, dass das durchschnittliche Wachstum der fünf wichtigsten Handelspartner der Eurozone (ohne die USA) in diesem und im kommenden Jahr deutlich zurückgeht, wie die nachstehende Grafik deutlich macht.

Tendenz fallend: Wachstum der wichtigsten europäischen Handelspartner  (ohne USA)

Jegliche Prognosen sollten als hypothetischer Natur betrachtet werden und spiegeln keine zukünftigen Ergebnisse wider bzw. garantieren diese nicht.

Quelle: Bloomberg, Eurostat, Our World in Data, Berechnungen von Vanguard; Stand: 30. September 2023. Hinweise: Die fünf wichtigsten Handelspartner der Eurozone ohne die USA sind das Vereinigte Königreich, China, die Schweiz, Russland und die Türkei. Die fünf wichtigsten Handelspartner Deutschlands ohne die USA und die Eurozone sind China, Polen, das Vereinigte Königreich, die Schweiz und die Tschechische Republik. 

In den drei Quartalen bis Ende Q2 2023 sind die Exporte des Euroraums mit einer durchschnittlichen vierteljährlichen Rate von 0,3% geschrumpft. Der schwache Handel wird voraussichtlich mindestens bis Jahresende anhalten, allerdings deuten mehrere Frühindikatoren, einschließlich der Komponente „Neue Exportaufträge“ des Einkaufsmanagerindex, bereits jetzt auf einen weiteren Rückgang hin. 

 

1 Quelle: Deutsche Bank, EZB, BEA, Stand: 30. September 2023.

2 Die weit gefasste Geldmenge (M3) umfasst Bargeld, Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit von bis zu zwei Jahren, Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungsfrist von bis zu drei Monaten sowie Rückkaufsvereinbarungen, Geldmarktfondsanteile und Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren.

3 Siehe unter anderem den Artikel IV-Forschungsbericht des IWF über die USA, in dem die Autorinnen und Autoren von einer prozyklischen Finanzpolitik im Jahr 2023 ausgehen.

4 Wir verwenden Gechert (2015), um unsere Annahmen zum Fiskalmultiplikator zu kalibrieren, wobei der Multiplikator unter anderem von der Art der Ausgaben oder der Besteuerung und der Produktionslücke abhängt.

5 Laut Daten des CPB Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis. 

 

 

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