Ein Kommentar von Roger Aliaga-Díaz, Chief Economist Americas und Head of Portfolio Construction, und Jumana Saleheen, Chief Economist, Europe.

 

  • Die Federal Reserve und die Europäische Zentralbank haben ihre Zielzinssätze in der ersten Maiwoche um jeweils 25 Basispunkte angehoben.
  • Die Märkte hatten Zinssenkungen noch in diesem Jahr eingepreist; beide Zentralbanken haben jedoch deutlich gemacht, dass die Zinsen hoch bleiben müssen, um die Inflation einzudämmen.
  • Wir erwarten erste Zinssenkungen frühestens im kommenden Jahr.

 

Seit Monaten senden die Märkte in den USA und im Euroraum ihren Zentralbanken eine klare Botschaft: Die Zinsen werden noch in diesem Jahr wieder sinken. Jetzt haben die Federal Reserve (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) geantwortet: Wohl kaum.

Obwohl Fed und EZB ihre Zinsziele kontinuierlich angehoben haben, haben die Märkte – wahrscheinlich aufgrund steigender Rezessionsrisiken – Zinssenkungen noch in diesem Jahr eingepreist. Wie preisen die Märkte fallende Zinsen ein? Einerseits durch komplexe zinsgebundene Derivate, andererseits durch eine Inversion der Zinsstrukturkurve – ein ungewöhnlicher Zustand, bei dem kurzfristige Anleihen höhere Renditen abwerfen als langfristige.1

In dieser Woche jedoch haben beide Zentralbanken ihre Zinsziele um weitere 25 Basispunkte (0,25 Prozentpunkte) angehoben und dabei auf die anhaltend hohe Inflation verwiesen.

Zinserhöhungen in den USA und in Europa – und unsere Prognosen

Am 3. Mai hat die US-Notenbank den Zielkorridor für die kurzfristigen US-Zinsen zum zehnten Mal innerhalb von etwas mehr als einem Jahr auf jetzt 5 bis 5,25% angehoben. Bevor die Fed die aggressivste Inflationsbekämpfung ihrer 110-jährigen Geschichte einläutete, lag der Leitzins ganze 500 Basispunkte niedriger.

Am 4. Mai hat die EZB ihrerseits ihre Leitzinsen innerhalb von weniger als zwölf Monaten zum siebten Mal in Folge angehoben. Der Zinssatz für die Einlagefazilität der EZB, also der Jahreszins, den die Banken auf Tagesgeldeinlagen bei der Zentralbank erhalten, liegt derzeit bei 3,25% und damit 375 Basispunkte über dem Stand des Jahres 2022, als die Europäische Zentralbank den Kampf gegen die Inflation aufnahm und die Zinsen im Euroraum unter der Nullmarke lagen.

Im Anschluss an die Zinsentscheidungen machten die Präsidentin der EZB und der Chairman der Federal Reserve deutlich, dass Zinssenkungen in naher Zukunft ausgeschlossen sind.

Wir gehen weiterhin davon aus, dass die US-Notenbank die Zinsen in diesem Jahr noch ein- bis zweimal anheben und frühestens 2024 wieder senken wird. Der Zinssatz der EZB-Einlagefazilität dürfte in diesem Jahr auf 3,75 bis 4% steigen, und auch im Euroraum erwarten wir bis Jahresende keine Zinssenkungen. Zudem haben wir unsere Zinsprognosen für Großbritannien zuletzt von 4,5% auf 4,75 bis 5% angehoben, vermutlich wird die Bank of England (BoE) die Zinsen schon auf ihrer nächsten Sitzung am 11. Mai auf 4,25 bis 4,5% erhöhen.

Die Inflation sinkt, aber nicht schnell genug

Aus unserer Sicht müssen alle drei Zentralbanken die Zinsen weiter anheben, um die Inflation in Richtung des 2%-Ziels zu drücken. Sowohl die Federal Reserve als auch die EZB begründeten ihre Zinsentscheidungen mit der noch immer zu hohen Inflationsrate.

Wie das nachstehende Diagramm zeigt, liegt die Inflation aktuell bei 7% in der Eurozone und 5% in den USA; allerdings fällt die Kurve auf beiden Seiten des Atlantiks.

Die Zentralbanken blicken seit Kurzem besorgt auf die steigenden Dienstleistungspreise und deren Auswirkungen auf die Gesamtinflation, die im zweiten Teil der Grafik zu sehen sind. Die Dienstleistungsinflation ist wichtig, weil sie Rückschlüsse auf die mittelfristige Inflationsentwicklung zulässt.

Die Energiepreise sinken, doch die Dienstleistungspreise heizen die Inflation an

Quellen: Berechnungen von Vanguard auf Grundlage von Daten des US Bureau of Labor Statistics und Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union.

Hinweise: Daten für das US-Diagramm vom 1. Januar 2019 bis 31. März 2023. Daten für das Diagramm der Eurozone vom 1. Januar 2019 bis 28. April 2023. Kerngüter sind alle Güter mit Ausnahme von Nahrungsmitteln und Energie. Negative Beiträge zur Inflation – vor allem durch die Energiepreise im Jahr 2020 nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie – sind das Ergebnis sinkender Preise.

Ab wann ist Geldpolitik restriktiv?

Womöglich können die Zentralbanken ihre Zinserhöhungen einstellen, noch bevor die Inflation wieder auf 2% sinkt, denn geldpolitische Eingriffe wirken in der Wirtschaft meist mit Verzögerung. Fed-Chairman Jerome Powell und EZB-Präsidentin Christine Lagarde haben jedoch klargestellt, dass die Leitzinsen für eine Weile auf ihrem letztendlichen Höchststand bleiben müssen – und damit hoch genug, um die Konjunktur zu belasten.

Hier stellt sich die Frage: Ab wann ist Geldpolitik restriktiv?

Nach einer Definition gelten Leitzinsen als restriktiv, wenn die realen Zinssätze – Nominalzinsen minus Inflationsrate – positiv sind. Die Realzinsen sind im Euroraum nach wie vor deutlich negativ. In den USA sind einige Inflationsindikatoren inzwischen schwach positiv, andere nicht.

Nach einer anderen Definition wirken Leitzinsen dann restriktiv, wenn sie den „neutralen Zinssatz“ überschreiten, einen theoretischen Zinssatz, der das Wirtschaftswachstum weder fördert noch hemmt und damit den Status quo erhält. Das aktuelle Zinsziel der Fed übersteigt ihre eigene Schätzung für den neutralen US-Zinssatz um etwa das Doppelte, und auch der Einlagensatz der EZB ist etwa doppelt so hoch wie einige Schätzungen des neutralen Zinssatzes.

Folgt man dieser Definition, haben die Leitzinsen sowohl im Euroraum als auch in den USA also bereits ein restriktives Niveau erreicht. Da man den neutralen Zinssatz jedoch lediglich mit einer großen Fehlerspanne schätzen kann, können wir uns auf diese Aussage nicht verlassen.

Was höhere Zinsen für Anlegerportfolios bedeuten

Die Auswirkungen der Geldpolitik lassen sich nur schwer messen. Gehen die Zentralbanken jedoch nicht entschieden genug gegen die Inflation vor, ist womöglich der Lebensstandard von Millionen von Menschen bedroht. Deshalb erwarten wir weitere Zinserhöhungen in den USA und in Europa, auch wenn eine aggressive Zinspolitik oft in eine Rezession mündet.

In mehreren Industrieländern rechnen wir noch immer mit einer Rezession noch in diesem Jahr, Zinssenkungen erwarten wir frühestens im Jahr 2024.

Unsere Prognosen für langfristige Portfoliorenditen sind jedoch seit Beginn der Zinserhöhungen gestiegen, zumal Aktien heute weniger überteuert sind und Anleihen höhere Kuponzahlungen abwerfen.

 

Beispielsweise lag die Rendite zweijähriger US-Staatsanleihen per Handelsschluss am 3. Mai um 53 Basispunkte (0,53 Prozentpunkte) über der Rendite zehnjähriger Staatsanleihen. Theoretisch sollten Anleihen mit längerer Laufzeit auch höhere Renditen abwerfen als Anleihen mit kürzerer Laufzeit, da längere Laufzeiten riskanter sind und Anlegerinnen und Anleger für dieses höhere Risiko auch eine höhere Prämie erwarten.

Wichtige Hinweise zu Anlagerisiken

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